Inhaltsübersicht
VII. Solidarische Politik für alle Generationen

 

VI. Soziale Sicherheit und Modernisierung des Sozialstaates

1. Ziele und Grundsätze

Soziale Demokratie basiert auf einem leistungsfähigen Sozialstaat, der die großen Lebensrisiken absichert, die Solidarität aller einfordert und Chancengerechtigkeit mit dem Ziel herstellt, Eigenverantwortung und Selbständigkeit der Einzelnen zu ermöglichen. Bei unserem Eintreten für soziale Gerechtigkeit und für eine humane Gesellschaft bauen wir auch auf das Engagement der Kirchen, wie sie es in ihrem gemeinsamen Sozialwort zum Ausdruck gebracht haben.

Der Sozialstaat ist eine unverzichtbare Voraussetzung für unsere demokratische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Das System der sozialen Sicherung muß weiterentwickelt und modernisiert werden. Dabei müssen Qualität, Zielgenauigkeit und Gerechtigkeit der sozialen Sicherung erhöht werden. Die Finanzierungsgrundlagen der sozialen Sicherung müssen dabei gerechter gestaltet und beschäftigungswirksam reformiert werden.

Die Sozial- und Gesundheitspolitik der neuen Bundesregierung wird

  • soziale Sicherheit gegenüber den wichtigen Lebensrisiken garantieren,
  • Armut so weit wie möglich vermeiden,
  • einem Auseinanderdriften der Gesellschaft in Arm und Reich durch eine gerechte und solidarische Verteilung von Leistungen und Lasten entgegenwirken,
  • Chancengleichheit herstellen und spezifische Benachteiligungen ausgleichen,
  • einen gerechten Ausgleich zwischen den Geschlechtern und den Generationen schaffen sowie
  • die finanzielle Stabilität der sozialen Sicherungssysteme durch eine entschiedene Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und durch Strukturreformen sicherstellen.
     

2. Reform der Alterssicherung

Das Ziel der neuen Bundesregierung ist ein bezahlbares Rentensystem, das den Menschen im Alter einen angemessenen Lebensstandard garantiert.

Als erste Maßnahme wird die von der alten Bundesregierung beschlossene Rentenniveaukürzung gestoppt: Die zum 1. Januar 1999 vorgesehene Rentenniveaukürzung und die Einschnitte in die Erwerbsminderungsrenten werden bis zum Inkrafttreten einer neuen Rentenstrukturreform, längstens jedoch bis zum 31.12.2000, ausgesetzt. Dies wird Bestandteil eines Artikelgesetzes, das die neue Bundesregierung unmittelbar nach Amtsantritt beschließen wird.

Ziel ist es, den Beitragssatz zur Rentenversicherung im Jahre 1999 auf dem heutigen Niveau zu stabilisieren. Gleichzeitig soll auch die aus frauen-, sozial- und ordnungspolitischen Gründen erforderliche Sozialversicherungspflicht von geringfügiger Beschäftigung sowie von Scheinselbständigkeit erfolgen.

Zur langfristigen Sicherung der Renten und des Rentenniveaus sowie zur Stabilisierung der Beiträge wird die neue Bundesregierung in einem zweiten Schritt im Jahr 1999 eine große Rentenreform auf den Weg bringen.

Wir wollen die Alterssicherung der Zukunft auf vier Säulen aufbauen:

  • Die gesetzliche Rentenversicherung wird auch in Zukunft die entscheidende Säule der Altersvorsorge bleiben. Sie muß auch künftig im Alter einen angemessenen Lebensstandard sichern.
  • Zweite Säule ist die betriebliche Altersvorsorge. Sie muß verstärkt werden.
  • Dritte Säule ist die private Vorsorge. Auch sie soll gestärkt werden.
  • Als neue Säule der Alterssicherung wollen wir eine stärkere Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Produktivkapital und am Gewinn der Unternehmen.
  • Bei der Reform der Alterssicherung geht es um folgende Strukturreformen:
  • Entlastung der Rentenkasse von beitragsungedeckten Leistungen durch direkte Beitragszahlung des Bundes für die Kindererziehung
  • Einbeziehung aller Alterssicherungssysteme in die Reform
  • Erweiterung des Versichertenkreises: Grundsätzlich muß jede dauerhafte Erwerbsarbeit sozialversichert sein
  • Reform der Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten
  • Regelungen zur Lebensarbeitszeit und zur Altersteilzeit
  • Absicherung unsteter Erwerbsverläufe
  • Eigenständige Alterssicherung der Frau, dabei auch Rente nach Mindesteinkommen, Reform der Hinterbliebenenversorgung, Prüfung der rentenrechtlichen Absicherung von Teilzeitarbeit
  • Vorsorgemaßnahmen für den demographischen Wandel (z.B. ergänzendes Kapitaldeckungsverfahren).

3. Leistungsfähiges und bezahlbares Gesundheitssystem für alle

Die neue Bundesregierung ist einer sozial gerechten Gesundheitspolitik verpflichtet, die auf dem Solidar- und Sachleistungsprinzip beruht. Dazu gehört eine paritätisch finanzierte Krankenversicherung.

Die neue Bundesregierung wird dafür sorgen, daß Gesundheit für alle bezahlbar bleibt und jeder den gleichen Anspruch auf eine qualitativ hochstehende medizinische Versorgung hat. Gesundheitsförderung, Gesundheitsvorsorge und Rehabilitation erhalten einen hohen Rang, das Instrument der Selbsthilfe wird gestärkt.

Die Verbraucherinnen und Verbraucher müssen vor Gesundheitsgefahren geschützt werden. Darum wird die neue Bundesregierung den umfassenden vorsorgenden gesundheitlichen Verbraucherschutz stärken. Die Verbraucherberatung wird verbessert.

Ziel der neuen Bundesregierung ist es, den Anstieg der Krankenversicherungsbeiträge zu stoppen und die Beiträge dauerhaft zu stabilisieren.

Dazu werden wir in einem ersten Schritt noch 1998 ein Vorschaltgesetz verabschieden.

Eckpunkte dieses Gesetzes sind:

  • eine vorläufige Ausgabenbegrenzung
  • Zahnersatzleistungen der Krankenversicherung für alle als Sachleistung (auch für nach 1978 Geborene)
  • Rücknahme von Elementen der privaten Versicherungswirtschaft, wie Beitragsrückgewähr, Kostenerstattung und Selbstbehalt
  • Modifizierung der Krankenversicherungskarte (Arztwechsel).

Im Vorschaltgesetz wird die neue Bundesregierung darüber hinaus ab 1.1.1999 chronisch Kranke und ältere Patienten von Arzneimittelzuzahlungen entlasten sowie Regelungen, die höhere oder neue Zuzahlungen der Patienten vorsehen, aufheben.

Das Vorschaltgesetz schafft die Voraussetzungen zur Durchführung einer Strukturreform zum 1.1.2000, die für mehr Wettbewerb um Qualität, Wirtschaftlichkeit und effizientere Versorgungsstrukturen sorgen soll.

Das Krankenhaus-Notopfer, DM 20,- pro Versicherten, wird ausgesetzt, mit der Zielrichtung, zu einer einvernehmlichen Lösung mit den Krankenkassen ohne Beitragssatzerhöhung zu kommen.

Um die Qualität der Versorgung zu verbessern und die Kosten zu senken, wird die neue Bundesregierung Regelungen einführen, um medizinisch fragwürdige Leistungen und Arzneimittel aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen zu streichen.

Zu den notwendigen Strukturreformen zählen darüber hinaus:

  • Einführung eines Globalbudgets
  • Stärkung der Rolle der Hausärzte unter Beachtung der freien Arztwahl
  • Bessere Zusammenarbeit von Hausärzten, Fachärzten und Krankenhäusern, z.B. durch gemeinsame Nutzung teurer Medizintechnik
  • Neuordnung des Arzneimittelmarktes (Positivliste, Re-Importe)
  • Neuordnung der ambulanten und stationären Vergütungssysteme (Vertragsgebührenordnungen, Pflegesätze einschließlich monistischer Finanzierung)
  • Vorrang von Rehabilitation vor Frühverrentung und Pflege
  • Reform der ärztlichen Ausbildung und Überprüfung der Berufsbilder der Medizinalfachberufe
  • Stärkung der Patientenrechte, des Patientenschutzes und der Qualitätssicherung; Gesundheitsberichterstattung
  • Der Schutz der verfassungsmäßigen Grundrechte und der Würde des Menschen im Rahmen von medizinisch-ethischen Fragen muß auch bei der Bioethik-Konvention beachtet werden.

4. Neue Wege bei der Drogen- und Suchtbekämpfung

Eine zukunftsweisende Politik zur Drogen- und Suchtbekämpfung umfaßt die Elemente Aufklärung, Prävention und Hilfe für Drogenabhängige sowie Strafverfolgung des kriminellen Drogenhandels. Sucht ist Krankheit. Darum ist zusätzlich die Suchtkrankenhilfe (Behandlung der Abhängigkeiten von illegalen Drogen, Alkohol, Medikamenten usw.) weiterzuentwickeln mit dem Ziel, eine effektive und qualitätsorientierte Suchtbehandlung und gesundheitliche Versorgung sicherzustellen und zu finanzieren. Das Betäubungsmittelgesetz wird mit dem Ziel überarbeitet, Modelle wie in Hamburg oder Frankfurt rechtlich möglich zu machen. Zudem werden die Initiativen des Bundesrates (Modellversuche zur ärztlich kontrollierten Originalstoffvergabe mit wissenschaftlicher Begleitung, ähnlich wie dies in der Schweiz durchgeführt wurde; Rechtssicherheit für staatlich anerkannte Drogenhilfestellen) aufgegriffen. Die Substitution durch Methadon oder Codein wird unterstützt. Damit wird zugleich dem Beschaffungsdruck und der Beschaffungskriminalität entgegengewirkt.

5. Bekämpfung der Armut – Arbeit statt Sozialhilfe

Die Bekämpfung der Armut ist ein Schwerpunkt der Politik der neuen Bundesregierung. Besonders die Armut von Kindern muß reduziert werden. Die neue Bundesregierung wird regelmäßig einen Armuts- und Reichtumsbericht erstatten.

Jeder Mensch soll die Chance bekommen, sein Leben aus eigener Kraft zu gestalten. Deshalb ist es das Ziel der neuen Bundesregierung, daß Arbeitsfähigen, die Sozialhilfe erhalten, eine Arbeit, eine Umschulung oder eine Weiterbildung angeboten wird.

Um die Vermittlung in Arbeit zu erleichtern und um überflüssige Bürokratie abzubauen, soll die Zusammenarbeit zwischen Sozialämtern und Arbeitsämtern nachhaltig verbessert werden.

Für einen Modellversuch zur Pauschalierung von Sozialhilfeleistungen werden unter Beachtung des Prinzips der Bedarfsdeckung und der Freiwilligkeit die gesetzlichen Grundlagen geschaffen.

Die neue Bundesregierung wird ein Konzept für eine bedarfsorientierte soziale Grundsicherung entwickeln, das schrittweise eingeführt werden soll.

Die 1999 auslaufende Übergangsregelung zur Anpassung der Sozialhilferegelsätze wird um zwei Jahre verlängert. Darüber hinaus wird die neue Bundesregierung ein Gutachten über die Möglichkeiten der Sicherung einer verläßlichen empirischen Datenbasis in Auftrag geben. Ziel dabei ist es, die Bedarfsgerechtigkeit der Regelsätze – insbesondere der der Kinder – zu überprüfen und weiter zu entwickeln.

6. Rechte von Menschen mit Behinderung stärken

Menschen mit Behinderungen brauchen den Schutz und die Solidarität der gesamten Gesellschaft. Die neue Bundesregierung wird alle Anstrengungen unternehmen, um ihre Selbstbestimmung und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe zu fördern und dem im Grundgesetz verankerten Benachteiligungsverbot für Behinderte Geltung zu verschaffen. Schwerpunkte dabei sind:

  • Der grundgesetzliche Gleichstellungsauftrag wird in einem Gesetz umgesetzt.
  • Das Recht der Rehabilitation wird in einem Sozialgesetzbuch IX zusammengefaßt und weiterentwickelt.
  • Die Vermittlung von Behinderten in den ersten Arbeitsmarkt hat Vorrang; ihnen müssen auch die Instrumente der Arbeitsmarktpolitik offenstehen. Spezifische Instrumente zur Eingliederung Behinderter, z.B. die Schwerbehindertenabgabe und die Integrationsfachdienste, werden verbessert und weiterentwickelt.
  • Es wird geprüft, wie die Deutsche Gebärdensprache anerkannt und gleichbehandelt werden kann.

7. Pflegeversicherung stabilisieren

Angesichts der Veränderungen im Altersaufbau unserer Gesellschaft ist für die neue Bundesregierung die Sicherung einer menschenwürdigen und ganzheitlichen Pflege ein wichtiges Zukunftsthema. Die neue Bundesregierung setzt sich zum Ziel, die Qualität der Pflege und Betreuung zu erhalten und angesichts begrenzter Finanzspielräume weiter zu verbessern.

Dazu werden folgende Maßnahmen ergriffen:

  • die Rücklage der Pflegeversicherung wird vorrangig für die dauerhafte Stabilisierung des Beitragssatzes verwandt. Die Bildung eines Teilkapitalstocks wird angestrebt;
  • die bereits in der 13. Wahlperiode vereinbarten maßvollen Leistungsverbesserungen werden umgesetzt; zugleich wird geprüft, wie die Betreuung Demenzkranker bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit und ob "Arbeitgebermodelle" berücksichtigt werden können;
  • die vorhandene sozialrechtliche Abgrenzung und Aufgabenteilung zwischen der Pflegeversicherung einerseits und der Krankenversicherung bzw. dem Sozialhilferecht andererseits werden überprüft und gegebenenfalls neu geregelt;
  • die Finanzierung der medizinischen Behandlungspflege durch die Krankenversicherung wird angestrebt.

8. Bezahlbare Wohnungen und lebenswerte Städte

Wir wollen mehr bezahlbare Wohnungen und mehr Lebensqualität in unseren Städten und Gemeinden. Die neue Bundesregierung wird den Wohnungs- und Städtebau besser verzahnen, die nachhaltige Siedlungsentwicklung stärken, der Bauwirtschaft Beschäftigungsimpulse geben und neue Schwerpunkte setzen:

  • Die Städtebauförderung wird verstärkt. Sie verknüpft verschiedene Politikfelder mit einem neuen integrativen Ansatz.
  • Sie wird ergänzt durch ein Programm "Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die soziale Stadt" für Innenstädte, Großsiedlungen und Stadtteilzentren.
  • Im sozialen Wohnungsbau tritt neben die Neubauförderung eine stärkere Förderung von Bestandsmaßnahmen, um das soziale Gleichgewicht in Wohngebieten zu erhalten oder wieder herzustellen. Es wird geprüft, ob und wie Sozialwohnungsbestände für eine dauerhafte soziale Wohnungswirtschaft gesichert werden können.
  • Die Eigenheimförderung behält ihren hohen Stellenwert und wird weiterentwickelt, damit sie in Ballungsgebieten, bei Mieterprivatisierung und beim genossenschaftlichen Wohnen besser greifen kann.
  • Den freifinanzierten Wohnungsbau gestalten wir effizienter und verhindern überzogene Abschreibungsmöglichkeiten. Alternative Instrumente wie Investitionszulagen werden wir prüfen.
  • Wir werden das CO2-Minderungsprogramm verbessern. Mit der Energieeinsparverordnung führen wir für den Neubau den Niedrigenergiehausstandard und für den Bestand Energiekennzahlen in zeitlichen Stufen ein.
  • Das Mietrecht wollen wir auf Grundlage der Ergebnisse der Bund-Länder-Arbeitsgruppe "Mietrechtsvereinfachung" reformieren.
  • Mit einer gesamtdeutschen Wohngeldreform wird das Wohngeld unter Berücksichtigung der Miet- und Einkommensentwicklung treffsicherer und familiengerechter gestaltet.
  • Besondere Probleme der ostdeutschen Wohnungswirtschaft wie Fehler im Altschuldenhilfegesetz oder Leerstände werden wir lösen helfen. Im Investitionszulagengesetz wird die Bestandserneuerung gegenüber dem Neubau gestärkt.
  • Bei der Privatisierung bundeseigener Wohnungsbestände gehen wir sozialverträgliche Wege, wie Kaufangebote an Kommunen und Länder, Genossenschaftsgründungen, Mieterprivatisierung zur Vermögensbildung und Altersvorsorge oder Erhalt einzelner Gesellschaften bei größerer Wirtschaftlichkeit.
  • In der Bodenpolitik werden wir Maßnahmen zur Baulandmobilisierung vorrangig im besiedelten Bereich ergreifen. Die Gemeinden sollen stärker an den durch kommunale Planungen herbeigeführten Bodenwertsteigerungen zur Finanzierung von Infrastruktur beteiligt werden.

9. Bürgerengagement anerkennen und unterstützen

Die neue Bundesregierung mißt dem gesellschaftlichen Engagement der Bürgerinnen und Bürger in Wohlfahrtsverbänden, Kirchen und in Ehrenämtern, Selbsthilfegruppen und Freiwilligendiensten hohe Bedeutung zu.

Die neue Bundesregierung wird daher folgende Schritte unternehmen:

  • Abbau rechtlicher und institutioneller Hindernisse, die sich der Selbsthilfe und dem sozialen Engagement entgegenstellen
  • Schaffung und Unterstützung zeitgemäßer Zugänge zum sozialen Engagement
  • Ausbau und rechtliche Absicherung nationaler und grenzüberschreitender Freiwilligendienste.

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